Durch das Coronavirus brauche ich einen Nebenverdienst, piercen wäre doch schlau!?
Wie werde ich Piercer, kannst du mir das mal kurz zeigen?!
Wohl jeder Piercerkollege von uns bekommt immer mal wieder über die Social Media Kanäle Anfragen, welche so oder so ähnlich lauten:
– Ich würde gerne Tätowierer oder Piercer werden, kannst du mir das zeigen?
– Piercen ist ja nicht schwer, da kann ich doch bestimmt einen Wochenendkurs bei dir buchen?
– Durch das Coronavirus steckt mein Beautystudio in Schwierigkeiten und ich möchte gerne Piercings anbieten, zeigst du mir das bitte?
Zuerst einmal sollte mal unterschieden werden, was man denn überhaupt lernen möchte.
Tätowieren und Piercen sind zwei grundlegend verschiedene Tätigkeiten!
Tätowieren basiert neben der handwerklichen Tätigkeit Pigmente immer in ein und dasselbe Medium, der Haut, einzubringen, hauptsächlich auf einer gestalterischen Ebene, die sich mit Bildharmonie, visueller Ästhetik und Körperformen beschäftigt. Auch wenn gewisse Faktoren bezüglich der Heilung von Körperstelle zu Körperstelle variieren, ist die Art der Wunde eine gänzlich andere als bei einem Piercing.
Da bei einem Piercing ein relativ großer Fremdkörper, das Schmuckstück, dauerhaft etabliert werden soll, sind hier die unterschiedlichen Gewebearten, primär Haut-, Schleimhaut- und Knorpelgewebe, als auch die Platzierung und damit verbundene Belastungen von sehr viel größerer Relevanz. Darauf basierend ist ein weitaus umfangreicheres medizinisches Wissen von Nöten, um verantwortungsvoll arbeiten zu können. Hinzu kommen notwendige Fertigkeiten aus den Bereichen Marketing, Verkauf, Produktpräsentation und Lagerhaltung.
Keine der beiden Tätigkeiten, weder Tattoo noch Piercing, ist geeignet um „nebenbei“ angeboten zu werden. Außerdem sollten sich jedem die Unterschiede erschließen und die Frage mit dem „oder“ erübrigen.
Durch fehlende Anerkennung und die damit verbundenen Regularien ist die Versuchung groß, sich mittels Gewerbeanmeldung und bescheidenen Mitteln, in die piercerische Selbständigkeit zu wagen. Kontrollen finden, wenn überhaupt, nur unzureichend statt. Wie in anderen Bereichen, schützt auch hier Unwissenheit nicht vor Strafe und eine Insolvenz ist durch Regress-Ansprüche schnell herbeigeführt.
Sollte sich, im besten Fall frühzeitig, eine Affinität und gewisse Passion zu unserer Tätigkeit herauskristallisieren, ist eine Ausbildung in einem medizinischen Beruf sicherlich von Vorteil. Zum Einen schafft sie, sollte sich der Wunsch nicht erfüllen, ein solides berufliches Standbein und zum Anderen wird dort ein gewisses Grundwissen an Hygiene, Anatomie und, nicht zu unterschätzender, sozialer Kompetenz vermittelt. Generell gilt, auch für Quereinsteiger, eine mehrjährige Ausbildung in einem renommierten Studio ist unerlässlich.
Gegenwärtig werden mehrere Kurse, welche eine vollständige Ausbildung vermitteln sollen, angeboten. Bei diesen, aktuell anscheinend recht beliebten, ein bis zwei Tage dauernden „Intensiv-Schulungen“ wird ganztägig (effektiv sechs bis acht Stunden) eine vermeintlich extreme Bandbreite an Wissen vermittelt, welche das volle Wissensspektrum abbilden soll. Im Vergleich hierzu, ist es in seriösen Betrieben nicht unüblich, dass Mitarbeiter ohne Vorkenntnisse im ersten Jahr noch nicht einmal Schmuck wechseln dürfen!
Man möchte euch das Piercen mit allem was dazugehört in sehr kurzer Zeit beibringen – aber ist das realistisch?
Beschreibungen könnten in etwa so lauten:
Bei uns wird umfangreiches Wissen erarbeitet. Beim Kennenlernen der menschlichen Anatomie angefangen, über rechtliche Aspekte inklusive kurzer Ausflüge in das BGB und StGB, Hygiene und den Anforderungen für Piercer, Schmucklehre, Piercingarten und -techniken, Kennenlernen der Geräte und Werkzeuge des Piercinghandwerks, dazu noch Übungen an verschiedenen Kunsthaut-Modellen und die notwendigen Nachsorgetechniken. *
Man bekommt also wahnsinnig viel Wissen in sehr kurzer Zeit. Das lassen wir jetzt einfach so stehen.
Doch wie steht es mit der Anwendung dieses Wissens? Im Alltag eines professionellen Studios sieht man unzählige Piercings an verschiedenen Körperstellen und an Personen mit unterschiedlichem Geschlecht, Alter, Beruf, Hobby, Hauttyp oder Ethnie. Durch die Nachkontrollen, unterschiedliche Heilungsverläufe oder auch vorkommende Probleme der Kunden, lernt man täglich unglaublich viel über mögliche Einflussfaktoren zur Wundheilung. In solchen Fällen findet zwar grundlegendes Wissen Anwendung, ist aber sehr wenig wert ohne diesen praktischen Anteil und die damit verbundene Fähigkeit zur Beurteilung des Ist-Zustands in Bezug zum gewünschten Soll-Zustand.
Wie bereits erwähnt, kommt man an einer Ausbildung in einem professionellen Studio nicht vorbei. Sollte es sich nicht um ein reines Piercingstudio handeln, ist auch der Stellenwert des Piercings zu beachten. Keinesfalls sollte es ein „Nebenbei-Geschäft“ sein – eine Gleichstellung mit dem Tattoo-Bereich ist erforderlich um notwendiges Verständnis voraussetzen zu können. Ein von einer Piercing-Kraft geführtes Studio empfiehlt sich hier.
Anfangs wird sehr viel Theorie primärer Bestandteil der Ausbildung sein.
Grundlagen in Hygiene, Arbeitsschutz, Mikrobiologie, Anatomie, Werkzeugkunde, Materialien, Schmuckformen und Platzierung. Dazu kommen die rechtlichen Aspekte wie Strafrecht, Einverständnis, Risiken, Pflichten und Aufklärung. Viele dieser Themen stehen in engem Zusammenhang mit Gesetzen und rechtsgültigen Richtlinien und Verordnungen. Ergänzend folgen dann noch der Verkauf und die Psychologie beim Umgang mit dem Kunden und der Warenpräsentation.
Die Hygiene im Studio und natürlich beim Piercing-Vorgang an sich, ist die Basis einer sicheren Arbeitsweise. An dem Beispiel einer anerkannten Fortbildung zum Hygienebeauftragten im Piercing-Studio inklusive Sachkundenachweis zur Aufbereitung von Medizinprodukten kann man sehen, dass der notwendige zeitliche Rahmen ein anderer ist. Allein diese Fortbildung dauert nämlich schon 3,5 Tage, wurde bereits für unsere Bedürfnisse komprimiert und deckt doch nur einen Teilaspekt unseres Tätigkeitsfeldes ab.
Um mal einen Überblick zu schaffen was alles dazu gehört hier ein kurzer Vorgeschmack des Kurses von Dr. Hanitzsch.
EU-zertifizierter Lehrgang (EurAsCert)
Kursinhalt
- Keime und Krankheitserreger
- Grundlagen der Reinigung und Desinfektion
- Hygiene relevante Gesetze und Verordnungen
- Grundlagen der Händehygiene
- Grundlagen der Flächendesinfektion
- Medizinprodukteaufbereitung für Piercer
- Hygiene- und Desinfektionsplan und Hautschutzplan Piercingstudio
- Sinnvolle Hygienemaßnahmen bei der täglichen Arbeit
- Personalhygiene
- Schutzkleidung
- Abfallmanagement
- Qualitätssicherungsmaßnahmen
- Grundlagen im Wundmanagement
- Grundlagen der Anatomie
- Erste Hilfe Maßnahmen (Notfälle beim Piercen)
- Bauliche und funktionelle Anforderungen an ein Piercingstudio
- Praxisteil
- Zertifikat nach erfolgreich bestandener Multiple-Choice-Prüfung
Gesetzliche und behördliche Anforderungen an das Hygienemanagement werden dabei konkret auf die Praxis übertragen.**
Diese oben aufgeführten Inhalte bilden lediglich die Basis für alles Weitere in unserem Tätigkeitsfeld. Alle genannten Elemente zusammen können eine gute Piercing-Kraft ergeben. Voraussetzung sind Passion, Geduld, eine gute Schule und das Verständnis niemals ausgelernt zu haben. Die schlechteste Basis hingegen bekommt man, wenn jemand einem etwas falsch zeigt und hierbei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, da man dies „ja schon immer so gemacht hat“. Erlerntes wieder abzulegen ist wesentlich schwieriger als einen, vermeintlich schwierigeren, anderen Weg gleich zu erlernen und ebenso die Offenheit für stetige Neuerungen zu behalten.
Das Setzen von Piercings ist allerdings nur der eine Teil. Erst der Verkauf von Schmuck mit dem Wissen um Eigenschaften und Möglichkeiten der Formen und Materialien machen eine adäquate Beratung oder auch die Planung von anatomisch angepassten Projekten möglich. Dazu kommen noch die anfangsgenannten üblichen Notwendigkeiten des grundlegenden Wissens über Anatomie.
Der Umgang mit dem Kunden, das Einschätzen des Gegenübers, Bedürfnisse zu erkennen und Begehrlichkeiten zu wecken ist dann das, was einen Verkäufer ausmacht. Es geht dabei nicht darum, um jeden Preis etwas zu verkaufen, sondern zu erkennen, was der Kunde eigentlich möchte, oftmals ohne dass es dieser genau benennen kann. Manchmal ist es aber auch besser auf Umsatz zu verzichten und vom Kauf oder dem Setzen eines Piercings (temporär) abzuraten, als einen unzufriedenen oder unsicheren Kunden zu haben, der sich schlecht beraten oder übergangen fühlt. Dieser würde sehr wahrscheinlich nicht wiederkommen. All diese Facetten im Verkauf sind nur an der Seite von erfahrenen Profis und über einen längeren Zeitraum zu erlernen. Ein gewisses Talent hierbei natürlich vorausgesetzt! An diese Aspekte denken die wenigsten im Kontext mit Piercing, dennoch sind diese unabdingbar.
Aber wie bereits erwähnt, hat eine gute Piercingkraft niemals ausgelernt: weltweit gibt es jedes Jahr verschiedene Fortbildungsveranstaltungen bzw. Fachkonferenzen im Bereich Piercing.
Unter anderem in den USA die APP-Conference, in Groß Britannien die UKAPP Conference, in Spanien die APPE Conference, in Russland die RUAPP Conference, in Mexiko die LBP Conference und in Deutschland das BMXnet. Hier findet ein riesiger Austausch unter bereits tätigem Fachpersonal statt und das ist auch für gestandene Piercingkräfte immer wieder empfehlenswert. Man nimmt nicht nur an Fachvorträgen teil, sondern hat auch dazwischen fachlichen Austausch. Denn jeder hat eine andere Vorgehensweise, egal in welchen Bereich unserer Tätigkeiten.
Wir als VPP bieten mit unseren regelmäßigen Stammtischen in verschiedenen Städten Deutschlands ebenfalls mehrmals im Jahr eine Plattform zum Austausch unter allen interessierten Profipiercern im kleineren Rahmen – um ins Gespräch zu kommen und den Wissenstransfer voranzubringen. Ebenso gibt es das VPP Non Member Forum auf Facebook, in welches alle Profikollegen herzlich zu einem digitalen Austausch eingeladen sind.
Ihr seht – ein toller Beruf mit einem breiten Aufgabenfeld.
Deshalb informiert euch gut und fragt gerne nach!
(Von Melanie Weiß, Life & Style by Melanie Weiß, Schömberg
Redaktionall überarbeitet von Loreia, Unknown Pleasures, Stuttgart)
Quellennachweis Zitate:
* https://www.piercingkurs.de/piercingkurs-2-tage/
** https://www.hygienehanitzsch.de/dienstleistungen/ausbildungundtraininig/hygienezertifikat-im-piercingstudio-inkl-der-sachkundezertifikate-medizinprodukteaufbereitung-und-flachendesinfektion/?preview=true